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Der Pflegeprozess

 

1. Einleitung

 Die Praxis der bereichsorientierten Bezugspflege beruht auf der Erkenntnis, dass die Pflegerische Konzeption des Pflegezentrums Bischofsgrün auch die Bedürfnisse des hilfebedürftigen Menschen berücksichtigen muss, die nicht unmittelbar aus den Erkrankungen oder des hohen Lebensalters entstanden sind.

 

Bezugspflege berücksichtigt möglichst viele Aspekte, die im Leben des Pflegebedürftigen enthalten waren, gegenwärtig sind und künftig sein werden.

 

Der „alte“, „kranke“ und „hilfebedürftige“ Mensch besteht nicht nur aus erkrankten Organen oder psychischen Defiziten. Er tritt in eine neue Phase seiner Existenz ein, in der er nach lebenslanger Eigenständigkeit und Selbstverantwortung von der Hilfe und Unterstützung anderer zunehmend abhängig wird.

 

Wir verstehen Altenpflege nicht nur als defizitäre Pflege unserer Bewohner. Unsere Einrichtung soll für unsere Bewohner ein „Zuhause“ werden, in dem sie leben und wohnen.

 

Auf dieser Basis muss jedem Pflegenden bewusst sein, welche Verantwortung in der Vielfalt von verschiedensten Pflegemaßnahmen aller Art liegt.

 

2. Der Pflegeprozess

 Helfen heißt im Pflegeprozess, den Pflegebedürftigen bei der Lösung und dem Ausgleich seiner gesundheitlichen und der damit verbundenen sozialen und psychischen Problematiken zu unterstützen und entstandene Defizite auszugleichen.

 

Der Pflegeprozess wird somit zu einem individuellen Problemlösungsprozess.

 

Art und Umfang der Unterstützung oder Übernahme von Aktivitäten und existenziellen Tätigkeiten des täglichen Lebens, die der Betreute benötigt werden in Form einer Problemanalyse erfasst.

 

Aus den Ressourcen und Pflegeproblemen ergibt sich der individuelle Pflegebedarf des Betroffenen. Der Bedarf der pflegerischen Versorgung wird während des Pflegeprozesses laufend an die veränderten Bedürfnisse und Prioritäten des Pflegebedürftigen angepasst.

 

Die planmäßige Problemlösung verläuft über mehrere Schritte, die aufeinander aufbauen.

 

3. Phasen der Problemlösung / Planung

Die Grundstruktur der Pflegedokumentation baut auf einen Pflegeprozess mit 4 Phasen auf:

 

 1. Einstieg in den Pflegeprozess mithilfe der SIS (Strukturierte Infomationssammlung)

 2. Maßnahmenplanung auf der Grundlage der Erkenntnisse aus der SIS

 3. Berichteblatt mit dem Fokus auf Abweichungen von regelmäßig wiederkehrenden Pflege- und Betreuungsabläufen

 4. Evaluation (mit Fokus auf Erkenntnissen aus SIS, Maßnahmenplanung und Berichteblatt)

 

 

4. Die Strukturierte Informationssammlung (SIS)

Die SIS wird prioritär im Rahmen des Erstgesprächs eingesetzt. Im weiteren Pflegeverlauf werden ihre Inhalte in Pflegevisiten und Fallbesprechungen zur Aktualisierung auf-gegriffen. In der SIS wird der Sichtweise der pflegebedürftigen Person zu ihrer Lebens- und Pflegesituation und ihren Wünschen/Bedarfen an Hilfe und Unterstützung bewusst Raum gegeben. Die fachliche Einschätzung der Situation durch die Pflegefachkraft bildet sich auf der Basis von fünf wissenschaftsbasierten Themenfeldern ab. Sie wird verknüpft mit den sich daraus ergebenden Risiken in Form der Risikoeinschätzung als Matrix sowie pflegesensitiven Phänomenen. Spezielle Aspekte zur Haushaltsführung (ambulant) und Wohnen/Häuslichkeit (stationär) ergänzen als sechstes Feld die Situationseinschätzung. Das bewusste Zusammenführen der individuellen und subjektiven Sicht der pflegebedürf-tigen Person mit der fachlichen Einschätzung durch die Pflegefachkraft, sowie das Ergebnis des Verständigungsprozesses dieser beiden Personen, bildet die Grundlage aller pflegerischen Interventionen.

 

 
Erläuterungen zur Sichtweise der pflegebedürftigen Person (1a)

 In der Informationssammlung werden die Angaben der pflegebedürftigen Person zu Gewohnheiten und Fähigkeiten sowie ihre Hilfe- und Pflegebeschreibung im Originalton festgehalten.

In diesem Erstgespräch wird die pflegebedürftige Person gebeten, von sich und ihrer (Lebens-) Situation – insbesondere im Hinblick auf den Hilfe- und Pflegebedarf – zu er-zählen. Der Erzählfluss soll möglichst wenig durch fachliche Fragen unterbrochen werden. Das Gespräch soll einerseits dazu dienen, die Person – soweit sie es gestattet – mit ihren Bedürfnissen, Werten und Gewohnheiten kennenzulernen und andererseits den Unterstützungsbedarf aus ihrer Sicht zu erfassen.

Eine wichtige Option ist die Hinzuziehung der Erfahrungen und Einschätzungen von An-gehörigen und Betreuern, falls die pflegebedürftige Person aufgrund ihrer körperlichen oder kognitiven Situation keine Aussagen treffen kann.

 

 

Erläuterungen zur professionellen Perspektive (1b)

 Ergänzend zu den Informationen durch die pflegebedürftige Person ist die Pflegefachkraft bestrebt, durch ihre fachliche Expertise und ihre Empathie (u. U. durch sinnverstehendes Deuten von Symptomen und Äußerungen bei Menschen mit Demenz und eingeschränkter Ausdrucksfähigkeit) die Pflege- und Betreuungssituation zu erfassen. Sie beschreibt den Hilfe- und Pflegebedarf sowie die Einschätzung zu möglichen oder tatsächlichen Ri-sikopotenzialen aus ihrer Perspektive. Sie informiert die pflegebedürftige Person in wertschätzender und einfühlsamer Weise über die fachliche Einschätzung der Pflegesituation/des Pflegebedarfs und berät sie.

 

 

Erläuterungen zum Schritt der Verständigung (1c und 1d )

Der Dialog zwischen der pflegebedürftigen Person (ggf. ihren Angehörigen/Betreuern/ Stellvertretern) und der Pflegefachkraft bildet die Grundlage für Entscheidungen zu Art und Umfang der individuellen Festlegung der Pflege und Betreuung. Ein Vorgehen, das bisher nicht ganz selbstverständlich ist und daher der Reflektion und der Übung bedarf.

 

Für den stationären Sektor, bei dem es um die Entscheidung zu einem existenziellen (meist letzten) Wechsel in eine andere Umgebung geht, ist in diesem Vorgehen sensibel auf die Erhaltung von bisherigen Gewohnheiten und lebensweltlichen Vertrautheiten zu achten, sofern sie erfahrbar sind. Sie helfen, Autonomie und Selbstkompetenz der pflegebedürftigen Person zu erhalten, zu fördern und ggf. wiederherzustellen.

Aus dem Austausch hierzu und unter Berücksichtigung der ärztlichen Verordnungen zur Häuslichen Krankenpflege (ambulant) oder der ärztlichen Anordnungen der Behand-lungspflege (stationär) entsteht der professionell begleitete Entscheidungsprozess.

Anschließend wird die Einschätzung in der SIS nach den sechs Themenfeldern dokumentiert und durch das Ausfüllen der Risikomatrix zur fachlichen Einschätzung der indi-viduellen Situation als erster Zugang zum Risikomanagement der pflegebedürftigen Person ergänzt.

 

 

5. Die Maßnahmenplanung

Grundsätzlich gilt, dass hierzu jede Pflegeeinrichtung vorab eigene Strukturen und Pro-zesse entwickeln und entlang der einrichtungsbezogenen Rahmenbedingungen und Zielgruppen entsprechende Akzente als Ausdruck des Pflegeverständnisses setzen muss, um die Ausgestaltung und Umsetzung der Maßnahmen zu gewährleisten.

In der stationären Versorgung werden Aussagen z. B. zur Alltagsgestaltung der grundpflegerischen Regelversorgung (Immer-so-Routinen), zur psychosozialen Betreuung und zur hauswirtschaftlichen Versorgung im Leistungsgefüge der Pflegeversicherung oder zu weiteren Absprachen getroffen. Hinzu kommen Maßnahmen im Bereich der Behandlungspflege mit dem dazu ggf. erforderlichen Risikomanagement. Voraussetzung ist deshalb eine Maßnahmenplanung, die insbesondere die interprofessionelle Begleitung der pflegebedürftigen Person und ihrer Angehörigen berücksichtigt und koordiniert.

 

Die Maßnahmenplanung im Rahmen des Strukturmodells unterscheidet sich grundle-gend von der bisherigen Praxis. Diese neue Form trägt wesentlich zur Übersichtlichkeit und damit zur Akzeptanz im Alltag bei und bindet sich nahtlos in die Erkenntnisse aus der SIS ein. Die Planung umfasst jetzt diejenigen Maßnahmen, die sich als Erkenntnisse aus

 

  • dem Erstgespräch in Verbindung mit den wissenschaftsbasierten Themenfeldern und dem sechsten Themenfeld,
  • unter Einbezug der Matrix zur Erfassung der Risiko- und Pflegephänomene und
  • der Abstimmung zu den Sichtweisen, Bedürfnisse und Vorgaben der pflegebedürftigen Person

 

aus der SIS ergeben.

 

Die ausführende Pflegefachkraft durchläuft einen gedanklich-fachlichen Prozess, der die Erkenntnisse aus der SIS einbezieht (Welche Ressourcen bestehen? Welche Problem-konstellationen sind vorhanden? Welche Zielsetzungen sind anzustreben?). Auch wenn im Strukturmodell nicht eplizit Ziele dokumentiert werden, sind sie Teil des professionel-len Denkens und der Evaluation.

 

Das Ergebnis dieses Prozesses spiegelt sich in Form konkreter Maßnahmen wieder, ohne dass die übrigen Zwischenschritte verschriftet werden. Letztlich entscheidend für das angestrebte Ergebnis ist die Darstellung der im Einzelfall bewohnerbezogenen wichtigen Maßnahmen.

 

Die Maßnahmenplanung stellt sich in der Regel durch die Gestaltung einer (Rahmen-) Tagesstrukturierung (einschließlich der nächtlichen Versorgung) dar. Hier kann mit fixen Zeiten und variablen Zeitkorridoren gearbeitet werden. Handlungsleitend ist, ob aus fachlicher Sicht oder auf Wunsch des Bewohners bestimmte Leistungen zu einem fixen Zeit-punkt erbracht werden sollten/müssten.

Unterstützende oder pflegerische Maßnahmen, die mehrmals am Tag in derselben Form erbracht werden (z. B. das Bereitstellen von Mahlzeiten in einer bestimmten Form), sind nur einmal zu beschreiben und werden dann mit einem Kürzel in die Tagesstruktur ein-gepflegt. Entscheidend ist, dass der routinemäßige und wiederkehrende Ablauf in der grundpflegerischen Versorgung sowie der psychosozialen Betreuung übersichtlich und zur schnellen Orientierung nachvollziehbar einmal dargestellt ist.

 

 

6. Das Berichteblatt (Verlaufsdokumentation)

Die Umsetzung der Erkenntnisse aus der SIS und individueller Maßnahmenplanung – verknüpft mit fachlicher Beobachtung – ist ein Teil der Voraussetzung für ein zeitsparen-deres und grundlegend verändertes Vorgehen im Berichteblatt. In der grundpflegerischen Versorgung mit ihren beschriebenen, routinemäßigen und wiederkehrenden Handlungen in Pflege und Betreuung (Immer-so-Routinen) konzentrieren sich die Aufzeichnungen im Berichteblatt ausschließlich auf das Auftreten von Abweichungen.

 

In dem Berichteblatt können grundsätzlich und gemäß Funktion sowie Verantwortungs-bereich alle an der Pflege und Betreuung beteiligten Personen (z. B. Mitarbeitende nach §§ 45a, bzw. 87b SGBXI, andere therapeutische Gesundheitsfachberufe etc.) Eintragun-gen innerhalb des vom QM gesteckten Rahmens und unter Berücksichtigung des Daten-schutzes vornehmen. Sicherlich ist dies ein Aspekt, der bei der Einführung des Strukturmodells eine interne Überprüfung und ggf. einen kritischen Diskurs der bisherigen Praxis in den Pflegeeinrichtungen erfordert.

 

7. Die Evaluation

In fachlich angemessenen Abständen, z. B. abhängig von stabilen oder instabilen Gesundheitssituationen und Pflegebedarfen, erfolgt die Reflexion und ggf. Evaluation der Pflegesituation und eine Reaktion durch entsprechende Angebote.

 

Parallel gibt es – wie oben ausgeführt – Festlegungen durch das interne QM zur routine-mäßigen Überprüfung der aus der SIS abgeleiteten Maßnahmenplanung, insbesondere auch im Hinblick auf den veränderten Umgang mit dem Berichteblatt.

 

 

Individuell angepasste Evaluation in fachlich begründeten Zeitkorridoren:

 

  • aktive Setzung von Evaluationsdaten im Kontext „okus auf Abweichungen im Pflegebericht" (Zeitraum einer routinemäßigen Evaluation der Maßnahmenplanung)
  • kurzfristig festzusetzende Evaluationsdaten im Kontext der Risikoeinschätzung
  • auch unter dem Aspekt einer zeitlich eng befristeten Beobachtung von pflegesensiti-ven Risiken und Phänomenen bei unklaren Ausgangslagen („a oder nein"-Matrix der SIS) zu Beginn der Pflege und Betreuung.

 

Davon unabhängig sind die anlassbezogenen Evaluationen in akuten Situationen oder bei besonderen Ereignissen wie oben ausgeführt. Ein zusätzliches Ziel des Elements 4 ist es, die in der Praxis vorzufindenden „schematischen Routinen" im Umgang mit Assessments, Skalen, Trink- und Essprotokollen etc. kritisch zu hinterfragen und anzuregen, sich aus fachlicher Sicht davon zu lösen, um gezielter nach fachlicher Entscheidung und in Würdigung der Gesamtsituation einer pflegebedürftigen Person vorzugehen.

 

Im Rahmen der Implementierungsstrategie wird man diesem Aspekt eine erhöhte Auf-merksamkeit widmen und die Erfahrungen aus der praktischen Umsetzung systematisch zusammentragen und für die Praxis aufbereiten.